DOCUMENTA KASSEL 16/06-23/09 2007

„Für mich waren die gelungensten Lunch Lectures diejenigen, bei denen sich ein Dialog zwischen dem Publikum und dem Podium herstellte.“ - Wanda Wieczorek im Interview


Wanda Wieczorek war bei der documenta 12 verantwortlich für die Koordination der documenta 12 Halle und der Lunch Lectures. Im documenta 12 Interview spricht die 29-Jährige über das Konzept der Veranstaltung, über persönliche Highlights und über unvermeidliche Anfängerfehler.


Frau Wieczorek, wieso gab es auf der documenta 12 das Format der Lunch Lectures?

Die Lunch Lectures sind entstanden aus dem Wunsch, zur documenta auch diskursive Formate anzubieten, einen Ort zu haben, an dem man sich über Kunst, über ihre Vermittlung und Fragen, die sie flankieren, unterhalten kann – ein Ort, an dem das Publikum involviert wird und an dem sich eine Öffentlichkeit bildet.

Wenn man von den Lunch Lectures auf der documenta 12 spricht, kommt man nicht umhin, die einzelnen Organisationsformen wie den Beirat, das Magazin oder die Vermittlung zu nennen. Welche Aufgabe haben die Lunch Lectures für die einzelnen Organisationsformen erfüllt?

Die verschiedenen Organisationsformen haben ja ganz wesentlich dazu beigetragen, die Ausstellung zu formen. Sie teilen das Interesse, die documenta in verschiedene Kontexte zu transportieren und sie mit lokalem Wissen in Austausch zu bringen. Das sind Dinge, die sieht man im Ausstellungsraum nicht auf den ersten Blick, aber sie gehören unbedingt dazu. Die Organisationsformen mit in die Ausstellung zu nehmen und sie als regelmäßigen Bestandteil der Ausstellung zu formulieren war ein wichtiges Ziel der Lunch Lectures. Ein gemeinsames Format zu haben, das auch dem Publikum vermittelt, was das verbindende Element von Beirat, Magazin und Vermittlung ist und einen gemeinsamen Raum daraus zu gestalten.

Weshalb fand dieses Format zur Mittagszeit statt?

Die Idee war, das tagsüber zu machen, als Teil des Ausstellungsgeschehens, nicht als etwas, was abends dann als Appendix dranhängt, sondern was zur Ausstellung wirklich dazugehört. Die Idee zur Benennung kam von Ruth Noack. Der Titel klang so gut, dass wir davon nicht mehr abkamen, obwohl es weder etwas zu essen gibt, noch ausschließlich Vorträge im strengeren Sinne. Wir haben unter dem Titel Lunch Lectures eine Vielzahl von Formaten realisiert: Vorträge, Diskussionen, Präsentationen, Gespräche, Fragestunden, sogar einige Exkursionen, aber eigentlich eher dialogische als frontale Formate.

Die Idee der Diskussionsrunden und Gespräche auf der documenta ist ja nicht gänzlich neu. Wodurch unterscheiden sich die Lunch Lectures von vorherigen, verwandten Veranstaltungen bei vergangenen documenten?

Es gibt natürlich die Vorgeschichte von Bazon Brocks Besucherschule und anderen Diskussionsveranstaltungen. Besonders ausgeprägt war das bei der documenta X mit dem Format „100 Tage, 100 Gäste“. Das fand aber abends statt. Wichtige internationale TheoretikerInnen kamen und haben gesprochen, das war somit jeden Abend eine richtig inszenierte Veranstaltung. Davon setzen sich die Lunch Lectures ein Stück weit ab - nicht weil sie das kritisieren möchten, sondern weil wir es bewusst etwas informeller halten wollten. Leute kommen vorbei, gucken sich das an, vielleicht bleiben sie eine Weile, vielleicht gehen sie aber auch weiter.

Foto: Isabel Winarsch
Eines der Leitmotive der Ausstellung lautete „Was tun?“ Inwiefern haben die Lunch Lectures zum Bildungsaspekt auf der documenta beigetragen?

Die documenta 12 hat sich ja als ein Ziel gesetzt, die Ausstellung als einen Raum zu begreifen, der dazu geeignet ist, Öffentlichkeiten zu bilden, im doppelten Sinne. Einerseits heißt das natürlich, Input zu geben. Aber es geht eben tatsächlich auch darum, physisch Möglichkeiten für Öffentlichkeiten zu schaffen.
Wichtig finde ich in diesem Zusammenhang vor allem die Offenheit des Formats. Es ging von Anfang an darum, zu experimentieren: ein Thema in den Raum stellen, Fragen stellen, das Publikum involvieren, die Richtung ändern und noch mal ganz anders ansetzen. Es geht um Momente der Öffentlichkeitsbildung und der gegenseitigen Bildung, um kollektive Bildungsprozesse, wo auch das Publikum mit seinem Wissen zum Zuge kommt. Von daher sind die Lunch Lectures ein Format, in dem sich dieser Bildungsanspruch der documenta verwirklichen konnte und wie ich finde auch verwirklicht hat.

Diese Offenheit beinhaltete auch die Fähigkeit, aktuelle Ereignisse thematisieren können. Konkret wäre zum Beispiel die Lunch Lecture zur Verhaftung des Soziologen Andrej Holm zu nennen.

Richtig. Da haben wir gesagt: Das betrifft die Kunst, das betrifft die Wissenschaft, das betrifft uns – wir müssen hier ein Statement formulieren. Das war natürlich schön, dass wir diese Lunch Lecture machen konnten, weil wir eben dieses Instrument hatten, Öffentlichkeit zu schaffen und sie einem wichtigen Thema zu widmen.

Wie sind die Lunch Lectures bei den Besuchern angekommen?

Es dauerte eine Weile, bis sie sich ins allgemeine Bewusstsein verankert hat, dass das ein fixer Termin ist am Tag und wirklich zur Ausstellung dazugehört. Ich glaube, für den externen Besucher ist es ganz normal, zuerst in die Ausstellung im engeren Sinne reingehen zu wollen. Man will die Objekte sehen und man will die Kunst sehen, man will in die Ausstellungsgebäude. Aber nach und nach hat sich dann die Erkenntnis durchgesetzt beim Publikum, die Lunch Lectures als Teil der Ausstellung zu akzeptieren.

Und wie haben die Kasseler BürgerInnen das Format aufgenommen?

In Kassel haben sich einige Leute die Lunch Lectures als Bildungsprogramm mit in den Sommer genommen. Da gibt es manche, die sind jeden zweiten Tag da gewesen. Deswegen war es auch wichtig, die Halle ohne Ticket zugänglich zu halten. Damit man ohne zu zahlen jeden Tag teilnehmen und sich beteiligen kann. In diesem Moment ist das Ziel der Lunch Lectures für mich erreicht.

Sind sie zufrieden mit dem Zuschauerzuspruch?

Es gab einzelne Lunch Lectures, da standen die Leute bis nach ganz hinten. Teilweise kam das auch überraschend. Der Vortrag von Karl Josef Pazzini beispielsweise über Tseng Yu Chin war eine hochgradig interessante Veranstaltung – aber eben auch eine sehr steile und schwierige These. Trotzdem war der Raum brechend voll.
Natürlich gab es auch die üblichen Publikumsmagneten, wenn Künstler da waren oder die künstlerische Leitung mitgewirkt hat. Das Schöne aber war: Auch bei weniger gut besuchten Lunch Lectures ging das gut auf, weil sich der gefühlte Publikumsraum sehr gut zusammenziehen und konzentrieren ließ ohne an Qualität zu verlieren.

Was waren für Sie persönlich Höhepunkte aus 100 Tagen Lunch Lectures?


Ein Highlight war sicherlich die Lunch Lecture mit dem Kollektiv SCRIPTS, die über fünf Stunden dauerte. Das war die Lesung der Tribunale der Guantanamo-Inhaftierten in den USA. Die wurden ins Deutsche übersetzt und dann gelesen von Leuten aus Kassel. Das war eine sehr besondere Lunch Lecture, denn da wurde das offene Format perfekt genutzt.
Eine andere Lunch Lecture, die mir sehr gut gefallen hat, war die bereits erwähnte zu Paragraph 129a und dem inhaftierten Soziologen Andrej Holm. Da ging es um die Freiheit von Kunst und Wissenschaft. Das ging mir persönlich sehr nahe.
Ich erinnere mich auch an international besetzte Podien aus dem Kreis der Magazin-EditorInnen, die beispielsweise zur Frage der Zensur im südostasiatischen Raum diskutierten und dabei eine Vielzahl von Sprachen und Vortragsformen benutzten. Da hat sich der translokale Ansatz der documenta 12 ganz deutlich und plastisch transportiert.
Oder an hervorragende Lunch Lectures, wo die VermittlerInnen aus ihrer Arbeit berichtet haben: BesucherInnen stellen Fragen, VermittlerInnen antworten. Da äußerten sich viele Menschen aus dem Publikum auf ganz direkte und unverkrampfte Weise. Deswegen fand ich diese Form sehr schön, weil sie wirklich das Publikum ganz direkt miteinbezogen hat.

Foto: Isabel Winarsch
Sind die Lunch Lectures also idealerweise eine Art Schnittstelle zwischen Publikum und Ausstellung?

Für mich waren die gelungensten Lunch Lectures in der Tat diejenigen, bei denen sich ein Dialog zwischen Publikum und Podium herstellte, wo sich diese räumliche Trennung inhaltlich auflöste und man merkte, das Publikum bringt sich und seine Perspektive mit ein. Da ist für mich eigentlich dieser Anspruch am meisten realisiert, die Lunch Lectures für die Bildung eines öffentlichen Raums zu benutzen.



Gab es auch negative Höhepunkte? Momente, bei denen Sie rückblickend sagen: Das würden wir heute anders machen?

Ich erinnere mich insbesondere an die Anfänge mit einem Lächeln, wo wir alle noch ganz neu mit dem Format waren und viele Fehler gemacht haben. Seinen Referenten keine Stoppzeichen geben, die dann stundenlang weitergeredet haben, bis kein Mensch mehr im Publikum saß. Oder Lunch Lectures, bei denen viel zu viele Leute auf dem Podium saßen und alle über alles geredet haben und das Publikum bis zum Schluss im Dunkeln tappte und eigentlich immer noch nicht wusste, um was es eigentlich geht. Ein bisschen schüttelt es mich, aber ein bisschen freut es mich auch, darüber nachzudenken, wie sehr wir da noch gesucht haben. Gegen Ende wurden die Lunch Lectures dann natürlich immer professioneller, aber ich muss sagen, dass gerade auch in dieser Unsicherheit manchmal ganz viel Potenzial drin steckt und abgesehen davon auch sehr viel Charme.

Würden Sie den Machern von documenta 13 ein Format wie die Lunch Lectures empfehlen?

Ich würde so etwas wieder machen, so eine Art begleitende, diskursive Veranstaltungsform, die aber sehr offen ist und dem Prozess Rechnung trägt – ich finde das ist sehr gut geglückt. Das könnte man jederzeit wieder so machen.

Vielen Dank für das Interview.



Das Gespräch führte Christian Steigels.





 
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