DOCUMENTA KASSEL 16/06-23/09 2007

Zweimal leben - das documenta 12 Filmprogramm

Es ist zweifelhaft, ob das Kino hierzu ausreicht; doch wenn die Welt zu einem schlechten Film geworden ist, an den wir nicht mehr glauben, kann dann nicht ein wahres Kino dazu beitragen, uns Gründe dafür zu liefern, an die Welt und die ohnmächtig gewordenen Körper zu glauben?
(Gilles Deleuze)

Der Ort des Films auf der documenta 12 ist das Kino: eine schlichte Antwort auf die Debatten der letzten Jahre, wie Laufbilder im Kunstkontext wohl am besten darstellbar wären. Der Film hat im Laufe seiner Existenz nicht nur, neben anderen Fähigkeiten, seine „Kunstfähigkeit“ unter Beweis gestellt, sondern mit dem Kino auch eine starke Präsentationsform und einen starken sozialen Raum herausgebildet. Diese Form und dieser Raum beruhen auf den technischen Besonderheiten des Mediums. Sie ermöglichen jene intensive Wahrnehmungsweise, der der Film seinen historischen Erfolg verdankt.

Die Auswahl von Alexander Horwath, Leiter des Österreichischen Filmmuseums, für das documenta 12 Filmprogramm hat das ganze Kino im Blick: alle Gattungen und Genres – populärer Spielfilm, Avantgardefilm, Dokumentarfilm, Kunstfilm (im Sinne des europäischen Autorenfilms) – den „Normalfall des Kinos“ eben. Normalfall meint auch: Kino/Film als Ereignis, als Aufführung, als Performance mit einer spezifischen, vom Zuschauer nicht steuerbaren Dauer.

An 100 Tagen documenta 12 finden 100 Aufführungen statt. 50 Programme, von den 1950er Jahren bis heute, werden an jeweils zwei unterschiedlichen Tagen gezeigt. Insgesamt werden 96 Filme im Gloria Kino in Kassel zu sehen sein. Dieses klassische Programmkino wurde übrigens im selben Jahr wie die erste documenta (1955) eröffnet. Damit ist auch der historische Rahmen der Filmauswahl benannt: die „zweite Hälfte des Kinos“, deren Beginn ungefähr mit dem Beginn des Aufklärungsmodells documenta zusammenfällt. Ein Moment, in dem Film auf vielfältige Weise über sich selbst nachzudenken beginnt. Ein ästhetischer Übergang, der dem Film ein Bewusstsein seiner Geschichtlichkeit und seiner Zeitlichkeit hinzufügt. Ein Prozess, in dem das Verhältnis zwischen Leinwandgeschehen, Zuschauer und dem Sehen selbst an Selbstverständlichkeit verliert.

Die frühesten Werke stammen aus den Jahren 1952–55 (sie hätten auf der ersten documenta laufen können), die jüngsten aus dem Jahr 2007. Zu sehen sind Klassiker wie Roberto Rossellinis Viaggio in Italia oder Guru Dutts Pyaasa, Underground-Kino wie Ken Jacobs’ Star Spangled to Death oder IXE von Lionel Soukaz. Experimentelles Kino wie Marie Menkens Lights oder Spiral Jetty von Robert Smithson ebenso wie populäres, etwa Land of the Dead von George A. Romero oder David Cronenbergs eXistenZ sowie drei Uraufführungen: Pitcher of Colored Light von Robert Beavers, Casting a Glance von James Benning und Halcion von Dietmar Brehm. Die Linien, die zwischen ihren Werken verlaufen, die Echos und „Gespräche“, die zwischen ihnen hörbar werden, ergeben nicht „Die Geschichte des Films seit 1950“, sondern eine Geschichte des Films. Im Zeitalter von Second Life (auf dem Computer zu Hause) und einer allumfassenden Regentschaft der Laufbilder mag diese Geschichte daran erinnern, dass das Versprechen des Kinos auf ein zweites Leben weder ein Spiel noch ein totalitärer Traum ist. Es ist vielmehr eine Schwelle zwischen dem einen Leben, das wir „haben“, und dem Vorschein von etwas Anderem – größtmöglicher Freiheit in Gemeinschaft.

Film auf der documenta 12 wird nicht als Objekt zum Mitnachhausenehmen oder Vorbeiflanieren vorgestellt, sondern als ein räumlich und zeitlich bestimmter Akt der Anschauung und des Austauschs mit der Welt.







 
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