DOCUMENTA KASSEL 16/06-23/09 2007

Nachts im Aue-Pavillon

Kurz nach 20:00 Uhr schweigen plötzlich alle Medieninstallationen und die Stuhlkreise der Palmenhaine sind leer, ihre Sitzgäste sind nach Hause gegangen. Jetzt, wenn sich langsam der späte Abend über die Karlsaue senkt und die letzten BesucherInnen der documenta 12 die Ausstellung verlassen haben, beginnen die LaufzeitbetreuerInnen des Aue-Pavillons mit dem wichtigsten Teil ihres Arbeitstages. Der dauert in der Regel bis 23:00 Uhr, manchmal auch bis Mitternacht. Die zehn LaufzeitbetreuerInnen um Teamleiter Mathias, die für den Pavillon und seine Kunstwerke täglich Sorge tragen, arbeiten in zwei Schichten. Vor 10:00 Uhr und nach 20:00 Uhr fallen neben den täglichen Routinearbeiten wie dem Putzen von Vitrinen und Glas, Abstauben von Kunstwerken und Wänden oder Wand- und Bodenretuschen auch regelmäßig Spezialaufgaben an.

Foto: Isabel Winarsch
Als Erstes wird der Rasen von Ines Doujaks Arbeit Siegesgärten getränkt: Zweimal pro Woche bekommt er innerhalb von zehn Minuten 80 Liter Wasser. Und alle zwei bis drei Tage wird er mit einem Handmähgerät geschnitten. Um 20:35 Uhr beginnt der groß gewachsene Mathias damit: „Das ist nur was für lange Arme“, lacht der Teamchef und studierte Architekt und reckt sich über das Beet, um wirklich jeden Grashalm zu erwischen. Nach einer Dreiviertelstunde ist der Rasen gemäht. Während Mathias noch das Gras um die Bubiköpfe herum stutzt, verrät er sein Geheimrezept: „Die Bubiköpfe müssen anders bewässert werden als der Rasen, nicht von oben. Man muss jeden einzeln leicht anheben, um sie von unten wässern zu können.“ Am Anfang sind sie viel zu schnell verwelkt und mussten ständig ausgetauscht werden. Nun aber habe er den Dreh raus – und im Lager lauter Ersatzpflanzen, die nicht mehr zum Einsatz kommen. Anschließend bekommen auch die Samentüten Schutzhüllen gegen den Staub und das UV-Licht, mit dem das Beet über Nacht bestrahlt wird, damit die Pflanzen wachsen. Im Aue-Pavillon riecht es jetzt nach frisch gemähtem Gras.

Foto: Isabel Winarsch
Niemand darf so nah an die „Heiligtümer“ wie die Leute vom Laufzeitteam. Man bekommt den Eindruck, jedes Kunstwerk habe eine eigene Persönlichkeit und ganz spezielle Charaktereigenschaften. Das Team aus Architekten, Restauratoren und Handwerkern hat deshalb für jeden seiner Schützlinge eine extra Rezeptur. Man spürt bei ihnen ein völlig anderes Verhältnis zu den Objekten, viel direkter und näher als es ein/e BesucherIn auf der Suche nach großer Kunst hat. Und dennoch wird jede einzelne der sensiblen Ikonen voller Respekt und mit größter Fürsorge behandelt.

Foto: Julia Zimmermann
Sobald es gegen 21:00 Uhr draußen dunkel wird, schaltet ein Wachmann zusätzliche Neonlichter ein. Im düsteren Raumteiler mit der Arbeit von Saâdane Afif sitzt Hobbymusiker Uwe auf einem umgedrehten Wasserkasten. Dessen Aufschrift lässt sein Amt leicht entschlüsseln: „Gitarrenstimmersitz“. Normalerweise kümmert er sich alle zwei Tage allein um den korrekten Klang der Akkorde. Heute jedoch arbeitet er seine Urlaubsvertretung Oliver ein, auch ein Musiker und Teamkollege. Uwe prüft sein Können und kommentiert zufrieden: „Das macht er sehr gut!“ Nebenan retuschiert Katrin den Boden mit roter Farbe und ihr Kollege Christian jagt Wollmäuse entlang der Stellwände. „Und ich kann mit Stolz sagen: Das ist meine Spezialität!“, lacht er. Denn das Reinigungsteam, das jeden Morgen wischt und saugt, darf nur bis auf 50 Zentimeter an die Kunstwerke heran. Parallel dazu sammelt Christian Spuren – manchmal auch Botschaften – ein, die die BesucherInnen hinterlassen haben. Einmal, erzählt er, habe jemand eine Spielzeug-Giraffe in Ines Doujaks Beet versteckt.

Ab 23:00 Uhr wird es im Aue-Pavillon ganz still. Die Laufzeitbetreuer verlassen ihre Schützlinge. Erst um 8:00 Uhr morgens werden sie wiederkehren. Allein die Klimaanlage, der bis Ende September keine Pause gegönnt ist, sorgt für das einzige Geräusch im Raum.

Foto: Isabel Winarsch
Am Morgen danach erscheint der Ausstellungsraum genauso still wie am Vorabend. Die Gitarren und Medieninstallationen schweigen noch. Katrin und Christian haben von 8:00 bis 10:00 Uhr Frühschicht. Bei Tageslicht fallen andere Arbeiten an, denn manche Sachen können nur im Hellen erledigt werden. Als Erstes gibt es jedoch eine Spezialaufgabe: Die nunmehr drei Tage alten, bereits etwas spröden Kuchenstücke auf den kleinen Podesten von Mladen Stilinovićs Installation werden gegen frische Ware ausgetauscht. Alle zwei bis drei Tage werden sie gewechselt. Katrin hat den Kuchen schon vor der Arbeit frisch beim Bäcker unter genauen Vorgaben eingekauft: „Kein Obstkuchen, nur tortenartige Stücke dürfen es sein“, erklärt sie und schneidet selbige in kleine Quadrate.

Foto: Isabel Winarsch
Dann werden die Schutzbedeckungen der Samentüten entfernt, Labels vom Staub befreit, der Boden gesaugt, unzählige Ai-Weiwei-Stühle wieder entlang der Linien ausgerichtet und gleichzeitig überprüft, ob sie noch intakt sind. Katrin drapiert die gestern für das Reinigungspersonal zur Seite gerückten Kissen in der Basbaum-Installation wieder neu. Der Teppich unter den Kissen hat sich ein wenig abgelöst, sie befestigt ihn mit Spezialkleber.

Foto: Isabel Winarsch
Um 9:00 Uhr sind alle Stühle und Kissen in Stellung gebracht. Die erste Kontrollrunde wurde bereits gemacht. Während eine Reinigungskraft mit einem Kehrgerät den gesamten Boden abfährt, schaut Christian bei Tageslicht noch einmal mit zielgerichtetem, aufmerksamem Blick nach Fehlstellen auf dem Boden und an der Wand. Jeder Vorhang, der auch nur ein paar Zentimeter zu weit zurückgezogen ist, fällt ihm ins Auge.

Um 9:11 Uhr heben plötzlich die Gitarren und alle Medieninstallationen ihre Stimmen an. Der Medientechniker, der morgens durch den Pavillon läuft und mit nur zwei Fernbedienungen alles anstellt, ist nicht zu sehen, aber seine Spur ist durch die Reihenfolge der aufschreienden Video- und Soundinstallationen zu verfolgen.

Gegen 9:30 Uhr ist alles bereit. Der Rasen der Siegesgärten scheint über Nacht gewachsen zu sein und sieht dem jungen Tag mit neuen BesucherInnen in gepflegter Erscheinung entgegen. Kurz vor 10:00 Uhr strömt ein Schwarm von Aufsichtspersonen in den Ausstellungsraum – das ist das Zeichen, dass es losgeht: Bis 20 Uhr gehört die Ausstellung nun wieder den BesucherInnen. Die nächtliche Arbeit der „Heinzelmännchen“ aber bemerken sie nicht, denn alles ist perfekt wie immer.

von Claudia Jentzsch





 
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