DOCUMENTA KASSEL 16/06-23/09 2007

„Zweimal leben durchzieht das ganze Filmprogramm. Es berührt eine Grundlage des modernen Kinos: die Frage, wie man mit Erinnerung umgeht.“ - Alexander Horwath im Interview


Alexander Horwath, Direktor des Österreichischen Filmmuseums in Wien, kuratierte bei der zwölften documenta das Filmprogramm im Gloria Kino. Im Interview spricht er über die Relevanz Vertigos, warum Kino seinen eigenen Ort braucht und wie alles vor Jahrzehnten mit Winnetou begann.

Fangen wir am Ende an: Zuletzt wurde im Gloria-Kino das Abendprogramm mit Vertigo, La Jetée und The Spiral Jetty präsentiert – ein Klassiker, ein Experimentalfilm und die Dokumentation einer künstlerischen Arbeit –, also quasi das Herz des Filmprogramms der documenta 12. Was hat Sie zu dieser (besonderen) Zusammenstellung motiviert?

Dies ist ein sehr repräsentatives Programm, das ausdrückt, was mir bei der Behandlung des Mediums Films im Rahmen einer documenta wichtig schien: möglichst die – gerade im Kunstbetrieb üblichen – Trennlinien und die Abspaltung von Teilgebieten des Films zu umgehen. Die Vorstellung, dass man auf gleicher Augenhöhe den verschiedenen Formen, die das Medium hervorgebracht hat, begegnen sollte, drückt sich in so einem Programm besonders klar aus: auch weil die Produktionshintergründe vollständig unterschiedlich sind. Und die ZuschauerInnen werden in einem mehr als dreistündigen Programm eingeladen, sich darauf einzulassen.
Das Programm stand relativ am Anfang meiner inhaltlichen Überlegungen, weil Vertigo für mich ein ganz zentraler Film ist. Wenn man die Entwicklung der Kritik und der Theorie des Films in der Nachkriegszeit verfolgt, dann war speziell Hitchcocks Vertigo einer der Filme, an denen sich eine neue Lesart des Kinos zeigte: ein populärer Film von einem der erfolgreichsten, berühmtesten Hollywood-Regisseure, der aber zugleich vielen Autoren und Kritikern wie Chabrol, Rohmer oder Godard fast wie ein experimenteller Film erschien. Man hat hier manchmal, ob in der Montage oder in der Raumkonstruktion, das Gefühl, dass die viel beschworenen Regeln des „klassischen“ Hollywood-Kinos transzendiert werden und dass die Erzählung in den Hintergrund tritt. Es ist sicher kein Zufall, dass sich viele FilmemacherInnen fast modellhaft auf Vertigo beziehen – bis hin zu Mulholland Drive von David Lynch.
Die Grundstruktur von Vertigo – also dieses Moment der Wiederkehr „aus dem Reich der Toten“, eine Art Zweimal-leben – durchzieht das ganze Filmprogramm. Es berührt eine Grundlage des modernen Kinos: die Frage, wie man mit Erinnerung umgeht, wie unterschiedliche Zeiten im Filmmedium zusammenfallen können. La Jetée spitzt dies weiter zu, ein Mensch kehrt aus der Zukunft in die Vergangenheit zurück. Auch der Topos des Museums, der in allen drei genannten Filmen vorkommt, weist in diese Richtung.
Und dann gibt es noch eine andere Ebene der (Wahl-)Verwandtschaft, die vielleicht auf den ersten Blick wie ein Oberflächenphänomen erscheint, aber für mich viel tiefer geht – nämlich die Spiralform, die für diese drei Filme so zentral ist. Die Spiral Jetty, die Smithson gebaut hat, verbindet sich nicht nur mit den Spiralbildern bei Hitchcock und Marker, sondern erfasst auch etwas von dem nicht beruhigbaren Taumel, der in diesen Filmen wohnt, und der einen ergreift, wenn man über Zeit im Film nachdenkt. Solche nicht-linearen, spiralförmigen Spuren sind für mich ganz wesentlich fürs Kino überhaupt.

Foto: Isabel Winarsch

Im Panel „Expanded Filmfestival“ wurde anlässlich der letzten Berlinale viel darüber diskutiert, welche denn die „ideale“ Präsentationsform von Film sei. Die Forum-Reihe „Forum Expanded“ ist gerade im Zusammenhang mit installativen Präsentationsformen entstanden. Bei Kunstausstellungen sind oft Filmemacher „integriert“. Was bedeutet vor dem Hintergrund der allmählichen Entgrenzung der Bereiche Film und Kunst Ihre Entscheidung, Filme dezidiert in einem getrennten Raum zu zeigen?


Mein Part in dieser Paneldiskussion hatte natürlich einen gewissen polemischen Anteil - ganz bewusst. Ich bin nicht derjenige, der sagt, man soll das Laufbild aus den Kunsträumen verbannen. Gleichzeitig habe ich genug Beispiele gesehen und diese Debatten in den letzten 15 Jahren genügend weit mitverfolgt, dass ich vieles, was der Kunstbetrieb im Umgang mit Laufbildern als selbstverständlich ansieht, als sehr unproduktiv und gegen die Werke gerichtet empfinde. Insofern war ich mit Roger Buergel und Ruth Noack von Beginn an einig, dass es einer dezidierten Geste bedarf. Das Medium Film hat eine sehr lange, eigenständige Geschichte – und eine lange, komplexe Geschichte der Beziehungen zur Kunstwelt. Viele Kunstkuratoren präsentieren heute mit einer gewissen Emphase Film außerhalb des Kinos und sehen darin schon eine progressive, kritische Haltung an sich. Aber erstens ist daran heute, angesichts der Omnipräsenz von filmischen Bildern im öffentlichen Raum, gar nichts mehr progressiv und zweitens hat das Kino selbst schon in den 1960er Jahren das „Expanded Cinema“ hervorgebracht.
Es gibt intrinsische Qualitäten des Mediums, die mit einer bestimmten Raum- und Zeitkonstellation zu tun haben. Kuratoren bauen oft Räume des Flanierens, in denen man so en passant wahrnimmt, was in einer Reihe verschiedener Räume oder Black Boxes geschieht. Viele Arbeiten sind aber so angelegt, dass sie als ein zeitgebundenes Ereignis mit Anfang und Ende erlebt werden. Man hört auch manchmal die seltsame These, der Zuschauer sei ein freieres und autonomeres Subjekt, wenn er um die filmische Installation herumgehen und wiederkommen kann, als wenn er ins Kino geht. Das halte ich für eine recht kindliche Ansicht. Man könnte darauf polemisch antworten, dass sich der Rezeptionsmodus des Vorbeiflanierens an bewegten Bildern im Kunstbetrieb eher mit Formen des Flanierens in der Shopping Mall verschwistert, also mit dem Modus des Konsums.
Die nächste Frage wäre diejenige nach dem Kunstmarkt und der Weise, wie der Kunstmarkt mit, aus seiner Sicht, „schwierigeren“ Objekten wie Filmen umgeht. Der Kunstmarkt muss aus Filmen Editionen machen, er muss den Film bestimmten Praktiken unterwerfen, die ihn objektförmig und verkaufbar machen – dies aber widerspricht dem Medium und seiner tendenziell unbeschränkten Distributionslogik. Im Film steckt gewissermaßen etwas „Unverkäufliches“ und dieses Nicht-Objekthafte ist auch seine Utopie.


Es gibt aber auch einen Filmmarkt. Und gerade im letzten Jahrzehnt sind zahllose Multiplex-Kinos, Shopping Malls des Films, entstanden. Wie erleben Sie diese Entwicklungen?


Natürlich zwiespältig. Wenn ich von einer Utopie des Films spreche, richtet sich diese gegen unterschiedliche Formen von Nicht-Intensität oder Austauschbarkeit – und die finden sich im Multiplex ebenso oft wie im Kunstraum. Ich wähle bewusst den Begriff Shopping Malls für bestimmte Typen moderner Museen, weil die dominanten Typen zeitgenössischer Wahrnehmung wie Shopping Malls funktionieren. Auch im Multiplex wird einem das bewusst – die Tatsache, dass Film als Bestandteil der allgemeinen Konsumkultur noch keineswegs ausgedient hat. Anderseits bleibt das Kino selbst in diesem Zusammenhang ein spezieller, sozialer Raum. Die Zusammenkunft eines spezifischen Publikums an diesem Tag, bei dieser Vorstellung, in diesem Multiplex, in dieser Stadt im Süden der USA, in Thailand oder in Finnland, ergibt für denselben Film jeweils ein ganz anderes Ereignis, immer nur lesbar zusammen mit diesem spezifischen Publikum.

Alexander Horwath (rechts) im Gespräch mit documenta 12 Pressesprecherin Catrin Seefranz und dem künstlerischen Leiter Roger M. Buergel

Noch ein Beispiel eines Filmprogramms: In the Street, Un giorno in Barbagia, Aufsätze sowie High School – sehr unterschiedliche Filme, die gemeinsam haben, je eine bestimmte Form von Jugend in ihrer Relation zur Öffentlichkeit darzulegen – und in Frage zu stellen. Um mit dem dritten Leitmotiv der documenta zu sprechen: Was (kann man mit Film) tun? Wie steht die (Präsentations-)Form Kino zur Frage der Bildung?


Dieses Verhältnis hat einen starken historischen Wandel hinter sich. Bis vor Kurzem waren sich die Systeme der Bildung und die Systeme des Kinos eher spinnefeind. Das kann man beobachten, seit die erste Schülerin die Schule geschwänzt hat, um ins Kino zu gehen. Es gibt diese tief sitzende Erfahrung, nach der das Kino der absolute Gegensatz zum offiziellen Bildungsort ist. Auch die Cinéphilie der Nachkriegszeit ist stark von solchen Vorstellungen geprägt, das zeigt sich z.B. in Truffauts Les quatre cents coups sehr schön. Aber gleichzeitig sieht man hier schon, wie das Kino als die bessere Schule verstanden werden kann. Dass man im Kino viel eher zu den Wahrheiten und Weisheiten des Lebens vordringen kann als in der Schule und dass man das im Kino Gesehene, Gehörte, Gelernte viel besser auf die eigene Existenz anwenden kann. Das Kino wird zum abenteuerlichen, wilderen, freieren, authentischeren Bildungsort.
Der Film High School von Frederick Wiseman führt ganz dezidiert - aber ohne polemische Kommentare - jene Aspekte von Schule vor, in denen eine Disziplinierungsanstalt sichtbar wird – junge Menschen im freundlichen Räderwerk einer Maschine, die sie zu amerikanischen Erfolgsbürgern zurechtzuschleifen trachtet. Die kürzeren Filme von Peter Nestler, Helen Levitt und Vittorio De Seta, die ich ausgewählt habe, sind wohlgemerkt jeweils für sich grandiose Arbeiten. Aber ich habe sie in ein Programm mit High School gebracht, weil in dieser Konstellation vielleicht noch stärker die Widerstandskräfte spürbar werden, die sie mobilisieren können. Sie zeigen Kinder in unterschiedlichen Formen des Noch-nicht-vollständig-diszipliniert-Seins.
Das, was die vier Filme – alle im Kontext dokumentarischer Arbeit – vorführen, sind die Grenzregionen zwischen dem Kindsein und Jungsein als Abenteuer und dem Eintritt in die verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen, wo sie gebildet werden sollen.


Michael Althen schlug in seinem abschließenden Kommentar zu den letzten Filmfestspielen in Venedig vor, es sollte mehr Austausch mit den je parallel laufenden Kunst- und Architektur-Biennalen vor Ort geben. Finden Sie diesen Vorschlag sinnvoll? Wie könnte so eine Kooperation aussehen? Können Sie es sich gut vorstellen?

Ich kann es mir gut vorstellen. Von 1999 bis 2001 war ich Berater für den damaligen Direktor der Filmfestspiele in Venedig, Alberto Barbera, der sich in diesen drei Jahren darum sehr bemüht hat, den Dialog zu intensivieren, denn es ist ja schließlich eine Institution, La Biennale di Venezia. Damals gab es Kooperationen, die dazu geführt haben, dass Installationen von Kiarostami und Egoyan in den Räumen der Kunstbiennale präsent waren. Zu seinen Ideen gehörte auch, dass man am Lido, also im Filmfestivalkontext Installationen zeigt. Ich finde es logisch, dass man versucht, in den Jahren der Kunst- oder Architekturbiennale, Arten der Begegnung zu schaffen, bei denen das Filmfestival-Publikum sich auch mit den „expandierten“ Formen, mit Erscheinungsformen des Filmischen jenseits der Kino-Projektionen konfrontiert – und umgekehrt. Das hat nur eine Voraussetzung: dass die jeweiligen Intendanten und Leiter der Sektionen einen regelmäßigen und intensiven Austausch pflegen.


Eine abschließende Frage: Wo liegen Ihre Anfänge als Kino-Besucher?

Kennen Sie die Karl-May-Filme? Winnetou? Gute deutsche Bastardkultur, mit der ich sozusagen ins Kino eingetreten bin. Meine Film-Sozialisation verdankt sich auch dem Fernsehen, nicht nur dem Kino, aber die erste intensivere – und serienförmige – Kinoprägung waren tatsächlich die deutschen Western. Die Karl-May-Filme der 1960er Jahre zählten zu den erfolgreichsten Produkten der deutschen Kino-Industrie überhaupt, darum waren sie wohl auch noch Anfang der 1970er ständig im Kino zu sehen, wo ich sie dann „retrospektiv“ entdeckt habe.


Aus der Zeit kenne ich eher Spaghetti-Western…


Lustigerweise wurden die deutschen Western schon früher begonnen. Der erste kam 1962 heraus, danach liefen sie aber parallel zu den italienischen.
Dieses Suchtmoment der Serie, das ich – interessanterweise mehr im Kino als im Fernsehen – sehr gut kenne, stammt vielleicht von dieser frühen Karl-May-Erfahrung. Es hat aber auch viel mit literarischer Serialität zu tun hat. Bei den Jules-Verne-Romanen war das auch so: Wenn man einen gelesen hat, will man alle anderen lesen. Es gilt für Genre-Kunst im Allgemeinen oder zumindest für meine eigene Zuneigung zu Genrefilmen; man tritt in eine virtuelle Familie von Figuren ein und kehrt sehr gerne immer wieder dorthin zurück.

Herr Horwath, danke für dieses Gespräch!


Das Gespräch führte Elena Zanichelli.







 
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