Leitmotive
Die documenta 12 orientiert sich an drei Leitmotiven. Es ist kein Zufall, dass diese Leitmotive als Fragen formuliert sind, schließlich machen wir die Ausstellung, um etwas herauszufinden. Hier und dort können diese Motive zueinander in Beziehung treten, einander überlagern oder auch zerfallen – wie bei einem Musikstück.
Ist die Moderne unsere Antike?
So lautet die erste Frage. Es ist recht augenfällig, dass die Moderne, oder – vielleicht besser – ihr Schicksal, einen starken Einfluss auf zeitgenössische KünstlerInnen ausübt. Ein Teil der Faszination mag daher rühren, dass niemand so genau weiß, ob die Moderne nun ein abgeschlossenes Kapitel darstellt oder nicht. Nach den totalitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts (den gleichen Katastrophen, die sie ins Werk setzte) scheint die Moderne in Trümmern zu liegen und vollkommen kompromittiert: sowohl durch die gnadenlos einseitige Umsetzung ihrer universalen Forderungen (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) als auch durch die simple Tatsache, dass Moderne und Kolonialismus historisch Hand in Hand gehen. Dennoch ist das Vorstellungsvermögen vieler Menschen von modernen Formen und Visionen tief durchdrungen und das bedeutet nicht nur Bauhaus, sondern auch Konzepte der Moderne wie „Identität“ oder „Kultur“, die aus der aktuellen Diskussion nicht wegzudenken sind. Kurz, es scheint, als stünden wir zugleich außerhalb und innerhalb der Moderne. Als seien wir einerseits von ihrer tödlichen Gewalt angewidert und andererseits von ihrem zutiefst unbescheidenen Anspruch auf Universalisierbarkeit angezogen. Gibt es, allen Widerständen zum Trotz, doch so etwas wie einen gemeinsamen Horizont für die Menschheit – ein Leben, das weder durch Differenz noch durch Identität bestimmt ist?
Was ist das bloße Leben?
Diese zweite Frage gilt der absoluten Verletzlichkeit und Ausgesetztheit menschlichen Lebens. Sie richtet sich auf den Teil unserer Existenz, den keine wie auch immer geartete Sicherheitsmaßnahme je schützen wird. Doch wie in der Sexualität können absolute Verletzlichkeit und unendliche Lust unbehaglich dicht beieinander wohnen. Das bloße Leben kennt eine apokalyptische und unmissverständlich politische Dimension, an deren Ende die Folter und das Konzentrationslager stehen. Es lässt sich aber nicht auf diesen apokalyptischen Aspekt reduzieren, denn es kennt auch eine lyrische oder sogar ekstatische Seite – eine Freiheit für neue und unerwartete Möglichkeiten (in zwischenmenschlichen Beziehungen ebenso wie in unserem Verhältnis zur Natur oder, noch allgemeiner, zur Welt, in der wir leben). Mitunter gelingt es der Kunst, die Trennung zwischen schmerzvoller Unterwerfung und jauchzender Befreiung vergessen zu machen. Doch was bedeutet das für ihr Publikum und dessen moralische Standards?
Die letzte Frage gilt der Bildung: Was tun? – KünstlerInnen bilden sich selbst, indem sie Formen und Inhalte durcharbeiten; das Publikum bildet sich, indem es Dinge ästhetisch erfährt. Wie man der jeweils singulären Erscheinung dieser Dinge gerecht wird, ohne sie in Schubladen zu stecken, ist eine der großen Herausforderungen, denen sich eine Ausstellung wie die documenta zu stellen hat. Aber es geht noch um mehr. In der Kunst und ihrer Vermittlung spiegelt sich der globale Prozess kultureller Übersetzung, der wiederum die Chance einer allumfassenden öffentlichen Debatte bietet. Ein Publikum zu bilden bedeutet, nicht nur Lernprozesse anzustoßen, sondern für eine Öffentlichkeit tatsächlich zu sorgen. Heute erscheint ästhetische Bildung als die einzig tragfähige Alternative zu Didaktik und Akademismus auf der einen und Warenfetischismus auf der anderen Seite.
Roger M. Buergel, Dezember 2005