d3 1964
„Kunst ist das, was bedeutende Künstler machen.“ Das war der Leitsatz für die documenta 3 von 1964. Werner Haftmann erprobte ein weiteres Mal seine These von der Maßgeblichkeit der Vorkriegsmoderne, indem ein letztes Mal die ältere Künstlergeneration mit ausgewählten Werken in den Mittelpunkt gestellt wurde, um ihre vorbildliche Rolle für die Gegenwart zu dokumentieren. Allerdings wurde kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben; die Auswahl der Künstler erfolgte strikt nach den Kriterien „Qualität und Relevanz“. Besonderheit der d3 war, dass nicht mehr die verschiedenen Künstlergruppen dargestellt wurden, sondern der Künstler als Individuum im Mittelpunkt stand. Die Freiheit und Autonomie der Kunst ließ sich nicht mehr in Stilen und Schulen erfassen, sondern entsprang dem individuellen Schöpfungsakt der Künstlerpersönlichkeit, wobei Haftmann jedoch weiterhin von seiner These der „Weltsprache Abstraktion“ ausging, und jüngste Tendenzen der aktuellen Kunst, die dieser Auffassung entgegen liefen, vernachlässigte.
Exemplarisch wurde dieser Ansatz noch einmal in der neu ins Programm der documenta aufgenommenen Ausstellung der Handzeichnungen vorgeführt, die Werner Haftmann als „intimste und persönlichste Äußerungsform im Bildnerischen“ verstand. Präsentiert wurden etwa 500 Exponate, die die Entwicklung der modernen Kunst, beginnend mit dem Impressionismus, nachzeichnen sollten. Es waren Arbeiten von Cézanne und van Gogh, Chagall, Picasso und Dix, Kokoschka, Feininger und Paul Klee, de Chirico, Max Ernst und Miró bis hin zu denen junger europäischer Zeichner wie Sonderborg, Vedova, Lismonde und Lucebert vertreten. Gezeigt in der wiederaufgebauten Galerie an der Schönen Aussicht (der heutigen Neuen Galerie), die erstmals seit Kriegsende die Ausstellungsorte Fridericianum und Orangerie ergänzte, sollte die Präsentation der Handzeichnungen so Einblicke in den persönlichen kreativen Schaffensprozess gewähren und wurde zur eigentlichen Sensation der d3.
Arnold Bodes Konzept der zuspitzenden und evokative Zusammenhänge schaffenden Rauminszenierung, mir dem er unter anderem das „visuelle Begreifen dessen, was schöpferische Menschen machen“ ermöglichen wollte, wurde bei der documenta zu einem neuen spektakulären Höhepunkt gebracht. In konzentrierten, auf einzelne Arbeiten zugeschnittenen Kabinetten wurde die Erfahrung der Kunst zu umfassenden Raumerlebnissen erhöht. So wurden drei Bilder des amerikanischen Malers Sam Francis, die für das Treppenhaus der Kunsthalle Basel gemalt worden waren, in einem sechseckigen Oberlichtsaal präsentiert, wo sie fast sakrale Weihen annahmen. Höhepunkt von Bodes Inszenierung war die Präsentation dreier großformatiger Gemälde von Ernst Wilhelm Nay, die in spektakulärer Schrägansicht unter die Decke eines eigens für sie gebauten Kabinetts gehängt wurden. Schlusspunkte eines Inszenierungskonzeptes, das Bode, wie der Kunsthistoriker Walter Grasskamp einmal vermutete, als Konkurrenz und Vorwegnahme der sich zum gleichen Zeitpunkt entwickelnden Rauminstallationen und Environments erschienen sein mag.