dX 1997
1997 leitete mit Catherine David erstmals eine Frau die letzte documenta vor dem Eintritt ins neue Jahrtausend. Dies veranlasste David, den „Blick zurück nach vorn“ zu ihrem Leitmotiv zu machen. Es wurde ein kritischer Rückblick auf die vergangenen fünfzig Jahre vorgenommen und gleichzeitig eine Vorausschau auf die Zukunft, für die David keine herkömmlichen Anwendungskriterien sah. Als Beschreibung ihrer Herangehensweise und auch als Form der Darstellung prägte die künstlerische Leiterin den Begriff der „Retroperspektive“. Es sollte darum gehen, die dX in Bezug zu ihren Vorgängerinnen zu setzen und sie in die „Tradition der Innovation“ zu stellen, die von jeder documenta ausging. Eine weitere theoretische Grundlage der dX war die Überlegung, dass die ästhetische Produktion auch ihr im weitesten Sinne politisches Umfeld mit einbeziehen müsse. David wollte den Zugang zum „Erkennen des Zustands der Welt“ auf unterschiedliche Art und Weise ermöglichen und definierte die dX daher als „manifestation culturelle.“ Bestimmte politische Eckdaten, die für weitreichende soziale und kulturelle Umwälzungen stehen, wie 1945, 1968 oder 1976/77, wurden zu zeitlichen Markierungen, entlang derer die politische, soziale, kulturelle und ästhetische Sensorfunktion der Kunst organisiert wurde.
Unter diesem Blickwinkel wurden besonders jene kritischen künstlerischen Positionen ausgewählt, die sich Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre formiert hatten. So wurde, in einem expliziten Rekurs auf die documenta 5, Marcel Broodthaers’ „Section Publicité, Musée d’Art Moderne, Départment des Aigles“ wiedergezeigt, die bereits 1972 in Kassel zu sehen war. Weitere gezeigte großangelegte Werkkomplexe von Michelangelo Pistoletto, dem brasilianischen Künstler Helio Oiticica, dem niederländischen Architekten Aldo van Eyck oder der „Atlas“ von Gerhard Richter stammten alle aus jener Zeit oder fanden dort ihren Anfang. Zusätzlich zu historischen Werken wurden Entwicklungslinien bis in die Gegenwart hinein nachgezeichnet.
Teil von Davids Konzeption war es ebenso, das traditionelle Spektrum der Ausstellung zu erweitern und über die bloße Präsentation und Inszenierung von Kunstwerken hinauszugehen. So wurde das Diskussionsforum „100 Tage – 100 Gäste“ integraler Bestandteil der dX. Hier diskutierten und präsentierten unter anderem Kunstschaffende, Wissenschaftler, Schriftsteller und Architekten über Fragen der Kunst und Gesellschaft – von den Möglichkeiten einer Kulturpolitik unter den Bedingungen des Weltmarktes bis hin zu Fragen nach den Grundlagen der Demokratie. Als Redner eingeladen war unter anderem auch der künstlerische Leiter der kommenden Documenta, Okwui Enwezor.